HT 2021: Diktaturdeutungen: Zum Umgang mit der jüngsten Vergangenheit in Europa und Lateinamerika seit 1990

HT 2021: Diktaturdeutungen: Zum Umgang mit der jüngsten Vergangenheit in Europa und Lateinamerika seit 1990

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Holle Meding, Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin

2021 ist ein Jahr der erinnerungspolitischen Deutungskämpfe. Während in Chile der Verfassungskonvent tagt, um das Erbe der Pinochet-Diktatur zu überwinden und eine neue Verfassung auszuarbeiten, wird in Spanien ein „Gesetz zur demokratischen Erinnerung“ debattiert, das den Opfern der Franco-Diktatur und des Bürgerkriegs Gerechtigkeit und angemessenes Gedenken zukommen lassen will. Zur etwa gleichen Zeit unterzeichnete Wladimir Putin ein Gesetz gegen Geschichtsfälschung, das jegliche Zuweisung von Mitschuld der Sowjetunion am Zweiten Weltkrieg und das Gleichsetzen von Sowjet- und NS-Handlungen unter Strafe stellt. Wie die Sektionsleiter STEFAN RINKE (Freie Universität Berlin), BIRGIT ASCHMANN (Humboldt-Universität zu Berlin) und ROBERT KINDLER (Freie Universität Berlin) erörterten, befinden sich diese Staaten in geschichtspolitischen Umbruchsituationen, die den Umgang mit ihrer diktatorischen Vergangenheit und den Demokratisierungsprozess betreffen.

Sowohl in Spanien als auch in Chile war die Zeit des Übergangs zur Demokratie (span. transición) von Pragmatismus gezeichnet und von dem Willen, einen Rückfall in die Konfrontationen der Vergangenheit zu vermeiden. In beiden Staaten spielte in diesem Rahmen die nationale Aussöhnung, die reconciliación, eine weitaus wichtigere Rolle als die gesellschaftliche Aufarbeitung. Obwohl die praktizierte Versöhnungsbereitschaft in Spaniens Demokratisierungsprozess einen wichtigen Referenzpunkt in den Diskussionen in Chile um 1990 darstellte und Spanien sich wiederum in den Aufarbeitungsprozessen ab der Jahrtausendwende auf Chile bezog, verblieben die öffentlichen Debatten vornehmlich in ihren eigenen nationalen Kontexten. Anders sah der Fall im postsowjetischen Konfliktraum1 aus. So legte der Osteuropawissenschaftler und Historiker Robert Kindler in seinem Vortrag dar, dass die geschichtspolitischen Prozesse in den Staaten, die 1991 nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion neu- bzw. wiederentstanden waren, nur als transnationale Konflikte begriffen werden können.

Wie der Demokratisierungsprozess in Spanien verlief und schließlich eine Umdeutung erfuhr, verdeutlichte im ersten Vortrag die Historikerin BIRGIT ASCHMANN: Mit dem Tod Francos am 20. November 1975 war die vierzigjährige Diktatur Spaniens zu einem Ende gekommen. Nun vollzog sich in einem außerordentlichen Tempo der Übergang von der Diktatur zur Demokratie. Der Systemwechsel galt vielen Beobachtern als besonders gelungen; aufgrund der Dauer der Diktatur, des friedlichen Wechsels zur Demokratie, der Versöhnungsbereitschaft und aufgrund der Geschwindigkeit, in der sich das neue demokratische System etablierte und gesellschaftlichen Zuspruch fand.2 Nach Aschmann bildete allerdings vielmehr das politische Stillschweigen über die Repression und den Bürgerkrieg (Pacto del Olvido) eine der zentralen Säulen der jungen Demokratie. Diese Zurückhaltung sei bis in die 1990er-Jahre gängige Praxis geblieben. Dann allerdings habe sich die Lage radikal geändert.

Warum und wie es zu diesem Wandel kam, erläuterte Aschmann anhand mehrerer Erklärungsfaktoren: Zum einen sei es strukturellen Phänomenen geschuldet, wie dem Generationswechsel und dem (allgemein europäischen) Erinnerungsboom. An die Stelle des Schweigens sei eine geradezu obsessive Beschäftigung mit der Vergangenheit getreten. Was bis dahin als vernünftige Zurückhaltung positiv gewertet worden war, habe nun als Vertuschung gegolten. Gleichzeitig habe sich sowohl in den öffentlichen Debatten als auch in der Historiographie ein Wandel vollzogen, der die Opfer verstärkt in den Mittelpunkt rückte und gezielt auf Empathie setzte. Dabei sei nicht nur Mitgefühl evoziert worden, sondern die Empathie mit den Opfern ging oft mit einer vehementen Anklage der Täter sowie einer massiven politischen Instrumentalisierung der Zuschreibungen einher. Zur gleichen Zeit gewann der katalanische Separatismus an Zustimmung, einhergehend mit einem anschwellenden Nationalismus und der Herausbildung eines Viktimisierungsnarrativs, welches die Katalanen nur als Opfer zentralspanischer Gewalt darstellte. So seien die ambivalenten Seiten der katalanischen Geschichte im Bürgerkrieg und Franquismus allzu schnell verdrängt und die Verantwortung für Bürgerkriegsverbrechen nach „Madrid“ ausgelagert worden; dort saßen die Täter und in Katalonien die Opfer.3 Wirtschaftskrise, Populismus, Emotionalisierung, Forderungen nach Gerechtigkeit, die massive Polarisierung der spanischen Politik und der katalanische Separatismus führten nach Aschmann zu einer Umdeutung und Abwertung der Erfolgsgeschichte der spanischen Transition.

Wie STEFAN RINKE ausführte, galt auch Chile vielen Beobachtern lange Zeit als Paradebeispiel für eine gelungene Transition. Doch wie zuvor in Spanien kippte dieses Narrativ im 21. Jahrhundert und kulminierte im Oktober 2019 in gewaltsamen Protesten, die sich an einer scheinbar belanglosen Erhöhung des Fahrpreises im öffentlichen Nahverkehr von dreißig Pesos (umgerechnet 3 Cent) entzündet hatten und das ganze Land erschütterten. „Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre“, etablierte sich zu einem Leitspruch der Demonstranten, die auf die dreißigjährige Zeitspanne seit der Rückkehr zur Demokratie anspielten.4 Rinke sah den Hauptanlass für die Proteste im Erbe der Diktatur begründet, stammte doch die gültige Verfassung von 1980 aus ihrer Hochphase, in der Pinochet sein Militärregime per manipulierter Volksabstimmung konstitutionell absichern ließ.5 Damit verbunden sei der wie in Spanien oft gemachte Vorwurf, dass die Transition zu sehr von Pragmatik, Versöhnung und damit auch Kontinuität geprägt gewesen sei. Anders als im spanischen Fall allerdings war der chilenische Diktator, der sich mit Unterstützung des Militärs 1973 an die Macht geputscht hatte, während des Transitionsprozesses nicht nur noch am Leben, sondern blieb noch ein Jahrzehnt in einer machtvollen Position. Seine Präsenz, der bruchlose Fortbestand des Justiz- und des Militärapparates sowie das bereits in der Diktatur verabschiedete Amnestiegesetz (Dekret 2191, 1978) machten ein gerichtliches Belangen der Verantwortlichen kaum möglich.6

Rinke sah in der Verhaftung des Ex-Diktators in London im Oktober 1998 einen Wendepunkt. Ein offener Brief Pinochets an die Chilenen habe die öffentliche Debatte weiter angeheizt. In diesem stilisierte er sich zum Märtyrer für eine gerechte Sache: Das chilenische Militär habe, so verkündete Pinochet, am 11. September 1973 die „Grundwerte unserer [christlichen] Zivilisation“ gegen die „materialistischen und atheistischen“ Kräfte verteidigt.7 Der chilenischen Regierung gelang es daraufhin, die Freilassung Pinochets zu erwirken und dieser kehrte – öffentlich gedemütigt – nach Santiago zurück. In der aufgeheizten Situation sei es schließlich eine Gruppe von Historikern um Gabriel Salazar gewesen, die ein Manifest über die Jahre des Regimes verfassten und Pinochets Argumente Punkt für Punkt widerlegten.8 Im Kontext der Finanzskandale und Gerichtsverfahren gegen Pinochet litt das Ansehen des Ex-Diktators deutlich. Infolgedessen habe ab der Jahrtausendwende die Mitte-Links-Regierung unter Ricardo Lagos vergangenheitspolitisch freier und offensiver agieren können. Sie setzte eine nationale Kommission für politische Gefangene und Folteropfer ein, die das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen durch den chilenischen Staat unter Pinochet untersuchen sollte und gab die Errichtung eines Museums der Erinnerung in Auftrag. Mit dem Tod Pinochets 2006 seien schließlich große Teile der chilenischen Rechten von ihrer obstruktiven Haltung abgerückt. Die Deutung der jüngeren Vergangenheit ließe sich dabei auch an den Kämpfen um Begriffe ablesen: Ob man die Jahre 1973 bis 1990 nämlich wie die Kritiker als Diktatur oder wie die Sympathisanten Pinochets als Militärregierung (gobierno militar) bezeichnet, bleibt heftig umstritten. Heute erlebt Chile einen nach Rinke „historisch einmaligen Verfassungsgebungsprozess“, der 2021 angestoßen wurde und das Ende der Transitionsära besiegele.

Wie derartige Deutungskämpfe sich zu transnationalen Konflikten erwachsen können, zeigte schließlich ROBERT KINDLER auf. Von gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen und dem Aufarbeitungsdiskurs weg, wandte sich Kindler stärker der Geschichtspolitik im Allgemeinen und der pansowjetischen Hungersnot der 1930er-Jahre sowie dem Hitler-Stalin-Pakt im Speziellen zu.

Die Hungersnot traf neben anderen Regionen die Ukraine und Kasachstan mit besonderer Härte. Auslöser seien die rigiden Maßnahmen des stalinistischen Regimes gewesen, die den Bauern und Nomaden die Lebensgrundlage entzogen. Während in Kasachstan und Russland die heutigen Narrative nah beieinanderliegen, sei in der Ukraine der erlittene Holodomor (ukr. für Tötung durch Hunger) zu einem elementaren Teil nationaler Identität geworden. Gleichermaßen liege in ihr die Abgrenzung von Russland begründet: Die Hungersnot sei ein Genozid gewesen und Moskau habe das Ziel verfolgt, die ukrainische Nation zu vernichten. Zwischen beiden Staaten etablierte sich nach Kindler eine ritualisierte Auseinandersetzung, bei der öffentliche Schuldzuweisungen sich an Moskau richteten und von dort ebenso tradierte Unschuldsbekundungen zurückgesandt wurden. Seit der Krimkrise 2014 habe sich die Tonalität jedoch deutlich verschärft.

In Kasachstan wiederum sei zunächst Stillschweigen über die Hungersnot gewahrt worden. Erst seit zehn Jahren wandle sich die Situation allmählich und 2012 wurden mehrere Monumente zur Erinnerung an die Hungerära errichtet. Insgesamt werde die Hungersnot eher wie eine Tragödie dargestellt, die ähnlich einer Naturkatastrophe über die Bevölkerung kam.9 Diese Zurückhaltung gründe sich auf zwei Faktoren: einerseits wolle man das Verhältnis zu Russland nicht belasten, andererseits sei es einer „Rücksichtsnahme auf die multiethnische Bevölkerung Kasachstan geschuldet, bei der nicht ganz klar sei, wie die Reaktionen aussehen würden, wenn man zu stark eine Gruppierung als Opfer stilisieren würde.“

Das zweite Beispiel, das Kindler anführte, war der geschichtspolitische Umgang mit dem Hitler-Stalin-Pakt. Bis Ende der 1980er-Jahre stritt die sowjetische Regierung das Bestehen eines derartigen Vertrags ab. Als allerdings die Beweislast immer erdrückender wurde, habe durchaus eine offene Auseinandersetzung in den 1990er- und 2000er-Jahren in Russland stattgefunden. Doch seit 2014 setze sich eine Argumentationslinie durch, die dem Pakt zeittypische und defensive Charakteristiken zuweise. Moskau sei von Feinden bedroht und von Hitler unter Druck gesetzt worden. So werde auch nicht vom Hitler-Stalin-Pakt, sondern vom Nichtangriffsvertrag gesprochen. Auch das im Juni 2021 erlassene Gesetz gegen Geschichtsfälschung sei in diesen Kontext einzuordnen. Beide Fallbeispiele verwiesen dabei auf das Verstummen differenzierter Positionen und die gleichzeitige Zuspitzung geschichtspolitischer Narrative sowie die Auslagerung von Schuldfragen.

Die Konflikte der Vergangenheit bewegen die Öffentlichkeit in Staaten mit jüngeren Diktaturerfahrungen gegenwärtig deutlich stärker als noch eine Generation zuvor. Der hierdurch angestoßene gesellschaftliche Diskurs erweist sich als schmerzhaft und befreiend zugleich. Er zwingt zu Reflexion und Stellungnahme. Gesetzgeberische Maßnahmen können diesen Prozess in einem aufklärerischen Sinne begleiten, sofern die jeweiligen Regierungen nicht die Deutungshoheit über die Vergangenheit an sich ziehen und ihre Sicht der Dinge dominant propagieren. Nicht selten jedoch wird Geschichte als ein Mittel der Herrschaftssicherung gesehen. Alte Frontstellungen und Feindbilder lassen sich auf diese Weise wiederherstellen und nutzbar machen. Die historische Forschung ist angehalten, sich der Unterordnung der Geschichte unter tagespolitische Interessen entgegenzustellen. Für diejenigen, denen die Möglichkeit zu freier wissenschaftlicher Arbeit verwehrt bleibt, sind klare Stellungnahmen aus dem Ausland, auf Kongressen und Historikertagen, eine wichtige Unterstützung gegen regierungsamtliche Vereinnahmung. Die Sektion „Diktaturdeutungen“ hat hierzu einen verdienstvollen Beitrag geleistet.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Stefan Rinke (Freie Universität Berlin) / Birgit Aschmann (Humboldt-Universität zu Berlin) / Robert Kindler (Freie Universität Berlin)

Birgit Aschmann: Vom Absturz eines Vorbilds. Spaniens Transitionsdebatten zwischen Populismus und Separatismus

Stefan Rinke: Der Kampf um Begriffe. Diktaturverarbeitung in der chilenischen Öffentlichkeit seit 1990

Robert Kindler: Der Terror der Anderen. Stalinismuskontroversen im postsowjetischen Raum

Anmerkungen:
1 Der Begriff postsowjetischer Raum ist in den letzten zehn Jahren immer wieder heftig in die Kritik geraten. So seien die sowjetischen Nachfolgestaaten doch viel zu heterogen, um sie als einen Raum zu begreifen. Des Weiteren verenge dieser Begriff die nationale Geschichte vornehmlich auf die Existenz der Sowjetunion. Doch wie oben beschrieben, legte Kindler dar, dass diese Staaten allen Unterschieden zum Trotz gerade in ihrem Umgang mit dem Stalinismus dauerhaft aufeinander bezogen blieben, so dass von einem transnationalen Konfliktraum auszugehen sei.
2 Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, London 1991; Edward Malefakis, The Franco Dictatorship. A Bifurcated Regime?, in: Nigel Townson (Hrsg.), Spain Transformed. The Late Franco Dictatorship, 1959-75, New York 2010, S. 248-254, hier: S. 252.
3 Näher ausgeführt wird dies von Aschmann in: Birgit Aschmann, Beziehungskrisen. Eine Emotionsgeschichte des katalanischen Separatismus, Göttingen 2021.
4 Aljenadro Maciel, ‘No son los 30 pesos, sino los 30 años de indiferencia’, dicen los manifestantes chilenos, in: Los Angeles Times, 23.10.2019, https://www.latimes.com/espanol/internacional/articulo/2019-10-23/no-son-los-30-pesos-sino-los-30-anos-de-indiferencia-dicen-los-manifestantes-chilenos (03.11.2021).
5 Siehe zum Staatsstreich und zur chilenischen Militärdiktatur: Stefan Rinke, Kleine Geschichte Chiles, München 2007; Stefan Rinke / Manuel Bastias, Der 11. September 1973 und die ersten hundert Tage der chilenischen Junta, in: Christian Cwik / Hans-Joachim König / Stefan Rinke (Hrsg.), Diktaturen in Lateinamerika im Zeitalter des Kalten Krieges, Stuttgart 2020, S. 199-221.
6 Näher ausgeführt in: Rinke, Kleine Geschichte Chiles, S.175-198.
7 Augusto Pinochet Ugarte, Carta a los Chilenos, London Dezember 1998. Einzusehen in: Digital Archive of Latin American and Caribbean Ephemera, Princeton University Library, https://lae.princeton.edu/catalog/6d2fef92-075d-4df2-89a9-4825dc80674c?locale=en#?c=0&m=0&s=0&cv=0&xywh=-894%2C-60%2C5063%2C457660%2C5063%2C4576 (30.10.2021).
8 Sergio Grez Toso / Gabriel Salazar (Hrsg.), Manifiesto de Historiadores, Santiago de Chile 1999.
9 Weiter ausgeführt in: Robert Kindler, Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg 2014 (2. Auflage Hamburg 2020).


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